Wie in meinem Artikel „Trainingsprinzip Shu Ha Ri“  erwähnt, gibt es diese japanische Philosophie, um ein Handwerk zu studieren. Diese Philosophie beschreibt den Lernprozess, gibt aber nicht unbedingt die Richtung vor. In diesem Artikel werde ich mich mit meiner Meinung zum fortgeschrittenen Training in unserem Dōjō ab dem 1. Dan, befassen.

  1. Grundlagenaufbau mit Kata-Training

In unserem Dojo liegt der Schwerpunkt des Trainings ab dem 1. Dan auf dem Erlernen der Kata der jeweiligen Ryū-ha, zum Erreichen des nächsten Dan-Grades. Kata bedeutet auf Japanisch „Form“. Die Techniken in den Denshō (Schriftrollen) sind vordefinierte Szenarien, die ein Prinzip und / oder Konzept veranschaulichen sollen. Wenn die verschiedenen Kata in ihren Denshō zusammengefasst sind, wird das übergeordnete Prinzip durch die Vielfalt der Konzepte und Bewegungen verstärkt. Schließlich wird das Gesamtkonzept der Schule sichtbar, sobald die Techniken einer ganzen Schule erlernt sind.

Wie Someya Sensei einmal in einer Klasse erklärte, bilden die Kata „ein Fundament“. Er fuhr mit dieser Analyse fort: „Wenn Sie ein Haus bauen, brauchen Sie ein starkes Fundament. Wenn Sie auf einem schwachen Fundament bauen, stürzt das Haus ein.“ Die Kata bilden also unser technisches Fundament. Ohne die richtige Technik wird unsere Gesamtstruktur schwach. Dies bedeutet nicht, dass die Kata perfekt sind. Sie unterrichten nur Übungen. Es ist wichtig, diese Prinzipien zu trainieren, bis sie zur zweiten Natur werden. Das bedeutet, die einzelnen Kata umfassend zu trainieren.

In Bezug zu Shu Ha Ri korreliert dies mit der Shu-Phase oder der Phase „Bewahren / Kopieren“.

 

  1. Henka-Training

Henka bedeutet „Variation“. Henka kann eine Variation sein, die in den Schriftrollen geschrieben ist, oder eine Variation eines Lehrers. Ziel ist es, die Übung zu unterbrechen, um ein tieferes Verständnis der Prinzipien in der Kata zu erlangen. Indem wir eine bestimmte Bewegung oder ein bestimmtes Prinzip außerhalb des angegebenen Beispiels anwenden, können wir beginnen, es klarer zu sehen, wenn die Details, die es umgeben, verschwimmen. Wir erhalten auch ein tieferes Verständnis dafür, warum eine bestimmte Kata so entworfen wurde, wie sie ist.

Siehe auch „Henka

Das beste Beispiel dafür ist, wie Noguchi Sensei oft Unterricht erteilt. Noguchi Sensei kann mehr als 80 Techniken in einer einzigen Klasse zeigen. Es beginnt jedoch immer mit der Technik aus der Denshō. Dann wählt Noguchi ein einzelnes Element aus um verschiedene Arten der Anwendung zu zeigen bzw. eine Henka zu erstellen. Schließlich wird jedes Stück der ursprünglichen Kata durch verschiedene Henka erforscht, bevor mit der nächsten Technik fortgefahren wird.

In Bezug auf Shu Ha Ri würde dies den Beginn der Ha- oder der „Loslassen / Durchbrechen“-Phase markieren.

 

  1. Randori

Nachdem man ein tiefes Verständnis der Prinzipien und der Techniken erlangt hat, ist es Zeit, mit Randori (japanisch 乱取り, wörtlich: das Chaos nehmen)  zu beginnen. Beim Randori muss der Praktizierende mit unbeschriebenen Angriffen umgehen und darauf reagieren. Dies kann von einfachem Improvisieren auf der Basis eines singulären statischen Angriffs bis hin zum Sparring gegen sich aktiv widersetzende Gegner reichen. Die Geschwindigkeit und der Widerstand hängen vom Trainingsniveau ab.

Siehe auch „Die Kunst des Randori“.

Randori fängt an, die Dinge ins rechte Licht zu rücken, während Theorie auf Realität trifft. Je mehr Panik zu spüren ist, desto mehr leidet die Technik. Daher ist es einer der wertvollsten Aspekte des Randori, zu lernen, wie man unter Druck ruhig bleibt und den Fokus beibehält. Darüber hinaus erhält man einen tieferen Einblick in die Realitäten des Kampfes und in die verschiedenen Prinzipien. Außerdem wird den Schülern gezeigt, was sie mehr trainieren müssen.

Learning a technique is not an end in itself,
it merely indicates where you need to start.
– Masaaki Hatsumi –

In Bezug auf Shu Ha Ri ist dies das Ende der Ha-Phase.

  

  1. Höhere Konzepte

Nachdem der Schüler die Technik gelernt und perfektioniert, ein tiefes Verständnis der Prinzipien erlangt und gelernt hat, diese Prinzipien anzuwenden, beginnt er, die Kunst selbst zu transzendieren. Auf diesem Level unterrichtet Hatsumi Sensei. Was er lehrt – ist nicht mehr nur physisch. Er lehrt auch, wie man den Geist des Gegners durch Irreführung und Ablenkung kontrolliert. Anstatt einfach nur zu reagieren, beeinflusst er die Situation aktiv, indem er seinen Gegner dazu motiviert, eine schwache Position einzunehmen.

Bei mehreren Gelegenheiten hat er erwähnt, dass er noch die Dai Shihan unterrichtet. Als ich das letztemal in Japan war, sagte er in einem Training: „Wenn du einen Dai Shihan nicht verstehen kannst, wirst du [mich] nicht verstehen.“ Dies liegt daran, dass bisher nur wenige Auserwählte den Grad des Verstehens erreicht haben – sie kennen die Kata, sie haben sie mit Henka intensiv erforscht und entwickeln nun ihre eigenen Konzepte auf der Grundlage der gefundenen Prinzipien.

Dies ist die „Ri“ – oder Loslösen“-Phase. Der Praktizierende überschreitet die Kampfkunst und sie wird zu etwas Einzigartigem für ihn.

 

Zusammenfassung

Wenn du mit dem fortgeschrittenen Training beginnst, konzentriere dich auf die Kata. Nimm, was du bereits aus unserem Prüfungsprogramm 9. Kyū bis 1. Dan kennst. Und wie ein gutes Buch solltest du jede Kata erneut lesen und trainieren, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Dies ist die Basis, auf der alles andere aufgebaut ist. Trainiere jede Kata mit Henka. Verstehe, was an der Technik am wichtigsten ist. Nehme diese Ideen und teste sie im Randori. Wenn du dies wiederholt tust, wirst du dich irgendwann selbst entdecken und die (Kampf)Kunst überwinden. Sei einfach geduldig – es ist ein lebenslanges Streben.

Ninpo Ikkan!