Tai Kamae 体構え

Gleich zu Beginn des Studiums des Bujinkan Budō Taijutsu erlernt jeder Schüler die grundlegenden  Körperhaltungen / Kampfpositionen – die Kamae 構え.

Dies geschieht im Anfangsstadium noch in einer statischen Form durch einfaches Einnehmen der unterschiedlichen Positionen. Dabei wird sehr viel Wert auf Details wie korrekte  Fuß-, Armposition, usw. gelegt.

Anfangs erscheint dem Schüler das genaue Einnehmen der Kamae als schwierig und die Stellung als äußerst unnatürlich. Erst langsam stellt sich dann mit zunehmender Übung ein gutes „Körpergefühl“ in diesen Positionen ein.

Spätestens mit Beginn der Vorbereitungen zum 8. Kyu wird jeder Student des Bujinkan Kanyou-Ryū Dōjō Salzburg mit Kamae in Anwendung konfrontiert. Uke und Tori stehen sich dabei zuerst in einer „Vorkampfstellung“ wie z.B. Ichimonji no Kamae gegenüber und greifen sich abwechselnd gegenseitig nach einem bestimmten Muster an, um eine bestimmte Technik zu trainieren.

Von  Außenstehenden, wurden mir schon oft Fragen nach dem Sinn und Zweck der Kamae in realen Kampfsituationen gestellt. Fragen wie z. B. Wie kann es sein, dass ein System wie Ninjutsu, das von sich behauptet seinen Praktizierenden das umfassendste Überlebenskonzept egal in welcher Situation zu bieten, mit solch starren Formen arbeitet?

Ist das Konzept von festen Stellungen denn überhaupt realitätsnah im Hinblick auf einen spontanen, schnellen „Straßenkampf“?

Wird vom Ninjutsu denn nicht behauptet, es sei ein gänzlich natürliches System, bei dem sich die Kunst dem Körper anpasst und nicht umgekehrt. Widerspricht dies denn nicht dem mühsamen Erlernen von genau definierten Stellungen?

Ich bin mir sicher, dass sich einige von euch auch schon mit diesen oder ähnlichen Fragen im Bezug auf Kamae und Realitätsnähe beschäftigt haben.

Im Folgenden werde ich meine Betrachtungsweise dieser Thematik darstellen. Dadurch hoffe ich euch einen tieferen Einblick vermitteln zu können, warum Kamae in dieser Form im Bujinkan gelehrt werden.

Um Laufen zu lernen, muß man bekanntlich erst einmal gehen lernen. Dies verhält sich auch beim Erlernen und Anwenden von Kamae so! Wer seine Kamae nicht beherrscht, wird später in einem Kampf vielleicht zu spät feststellen, dass er sich z.B. eine falsche Handhaltung angewöhnte und seine Deckung dadurch nicht ausreicht – mit fatalen Folgen.

Wenn die Kamae richtig eingenommen werden können, wird daran gearbeitet, die Kamae sinnvoll in Kampfsituationen einsetzen zu können. Der Schüler wird dabei erstmals verstehen, dass Kamae keineswegs nur eine starre Position ist, die man nur einnimmt, weil man das ja eh standardmäßig vor jeder Technik einnimmt oder weil es die Kata erfordert. Kamae kann alles sein, Angriffstechnik, Blocktechnik, Fluchttechnik, Ablenkung, usw.

Um mit Kamae auch wirklich effektiv arbeiten zu können, muß jedoch noch ein dritter Schritt erfolgen – deren sinnvolle Verbindung zu einem Fluß. Kamae sind keinesfalls statisch, sondern sehr dynamisch zu verstehen. In einer Technik fließt man von Kamae zu Kamae ohne dabei viel darüber nachzudenken. Dies bedeutet, ich befinde mich zu jedem Zeitpunkt einer Technik in einer Kamae (oft unbewusst) die mir einen optimalen Handlungsspielraum erlaubt.

In einem Straßenkampf wird mit Sicherheit nicht damit begonnen, dass sich die Kontrahenten in Kamae begeben und von dieser aus ihre jeweiligen Aktionen beginnen. Vielleicht erfolgt ein Angriff überraschend aus einem Hinterhalt oder aus einer großen Menschenansammlung heraus. In so einem Fall hat man keine Zeit seine Gedanken an Kamae zu verschwenden, sondern hat zu reagieren. Das Einnehmen der Kamae geschieht dann nur im Kopf. Schon nach einer eventuellen ersten Abwehraktion befindet man sich dann schon wieder in Kamae und kann von hier aus seinen Fluß fortsetzen. Man kann wohl wirklich nicht behaupten, das Konzept der Kamae im Ninjutsu sei realitätsfern.

Wer denkt, Kamae seien unnatürliche Körperstellungen, der liegt falsch, denn genau das Gegenteil ist der Fall! Wir leben in einer Zeit, in der uns natürliche Bewegungsformen abhanden gekommen sind. In den Zeiten des feudalen Japans waren die Ninja durch ihr Leben mit / in der Natur geprägt und konnten sich dadurch in einer natürlicheren Weise bewegen.

Heute ist unser Alltag beeinflusst durch das Leben in Städten, viel sitzende Tätigkeiten und dadurch mangelnde Bewegung. Nicht umsonst haben heutige Generationen durch sämtliche Altersklassen Haltungsschäden, eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten oder fehlende Abwehrmechanismen (natürliche Reaktionen, Immunabwehr). Kurzum, die Natürlichkeit des Individuums geht in unserer modernen Gesellschaft verloren.

Dem wirkt nun das Erlernen unserer Kampfkunst, die ich als Lebensphilosophie verstehe entgegen. Dem Schüler muß erst wieder beigebracht werden, wie eine natürliche Körperhaltung (in sehr frühen Zeiten war dies durch den Instinkt gegeben!) – und Bewegung aussieht. Dies geschieht unter anderem durch das Kamae-Training wie bereits beschrieben in den drei Stufen: Einnehmen der statischen Position – dynamische Anwendungen – Fluß von Kamae zu Kamae.

Kokoro Kamae 心構え

Neben den physischen Kamae gibt es aber auch noch die psychische/mentale Kamae, Kokoro Kamae 心構え oder auch Kokoro no Kamae 心の構え genannt – die (Ein)Stellung des Herzens. Während bei der physischen Kamae der körperliche Aspekt eine notwendige Bedingung für eine gute Basis darstellt, stellt jedoch die mentale/geistige Haltung die Essenz der Kampfkunst im Bujinkan dar. Unsere geistige Kamae repräsentiert unsere Einstellung zum Leben, zur Kampfkunst, zum Training, zu unserem Gegenüber und nicht zuletzt zu uns selbst.

Also gibt es in jeder Kamae einen physischen und einen mentalen Aspekt. Ich versuche, meinen Körper in einer Art und Weise einzusetzen, um den Feind zu täuschen. Diese Taktik nennt man Kyojitsu Tenkan Ho 虚 実 転 換, was so viel wie Lüge und Wahrheit bedeutet, bzw. das vertauschen von Lüge und Wahrheit. Kyojitsu Tenkan Ho bedeutet auch, dass der Feind nicht wirklich wahrnehmen kann was meine wahre Absicht ist. Wenn es so aussieht als wenn ich nach einem Angriff offen für einen Gegenangriff bin, bin ich es nicht. Wenn es so aussieht, dass mein Arm gegriffen werden kann, dann ist es so, weil ich will, dass mein Gegner meinen Arm greift. Die wahren Öffnungen sind versteckt, und meine wahren Stärken verberge ich als Schwäche. Sind wir nicht im Einklang von Körper und Geist, werden wir auch keine gute Kamae einnehmen können.

Vielen Bujinkan Trainierenden gelingt es nicht, diese Fähigkeiten der mentalen Ebene zu entwickeln und sie verpassen somit einen großen Teil unser Kampfkunst. So ist es nicht verwunderlich, dass die überwiegende Mehrheit nicht einmal über diesen inneren Aspekt der Kamae nachdenkt. Nur wer sich intensiv mit diesem Thema auseinandersetzt wird das volle Potential des Bujinkan Budo erfahren können. Durch stumpfes Wiederholen des alltäglichen Trainings kann dieses Level meiner Meinung nach nicht erreicht werden.

Ich hoffe Ihr versteht nun, dass Kamae viel mehr ist als nur das Verharren in einer bestimmten Körperstellung und könnt daran arbeiten, ein tieferes Verständnis dafür zu entwickeln.