Die Welt der Kampfkünste sieht sich ständigen Umwälzungen gegenübergestellt. Alle zehn Jahre sehe ich wie wieder mal ein neuer Kampfstil auftaucht, der selbstverständlich alles vorherige an Authentizität und Kampfstärke in den Schatten stellt.

Nach den Karate-, Kung Fu- und einschließlich Ninja-Jahrzehnten in den 60er und 90er Jahren, in denen jeder Stil die wirksamste Kampfkunst sein wollte, zeichnet sich in den ausklingenden 90ern eine Doppeltendenz ab. Einige interessieren sich mehr für den Kampfsport, in dem der Wettkampf eine dominierende Rolle spielt; andere hingegen suchen Stile, die sich nicht auf Turniere und dem sportlichen Kräftemessen spezialisiert haben, sondern deren Hauptinteresse in den historischen und philosophischen Wurzeln der jeweiligen Kampfkunst liegt. Das Bujinkan Budō Taijutsu stellt den Mittelweg dar, zwischen Kampfsport und philosophisch orientierter Kampfkunst.

Bujinkan Budō Taijutsu lehnt jede Form des sportlichen Kräftemessens ab, doch sein Training ist sehr körperbetont und von Respekt dem Trainingspartner gegenüber geprägt. Die Techniken sind schmerzhaft, jedoch nicht gefährlich im Sinne von lebensbedrohend. Im Bujinkan Budō Taijutsu finden sich neun Ryū (Schulen oder Systeme) wieder, die von Großmeister Hatsumi unterrichtet werden. Wir werden uns hier nicht in den Details verzetteln, die die verschiedenen Schulen voneinander unterscheiden, noch werden wir uns über den Namenswechsel von Ninjutsu oder Ninpō Taijutsu (bis 1996) zu Budō Taijutsu äußern. Der Inhalt und die technisch, philosophische Orientierung bleiben dieselbe.

Im Grund versucht das Budō Taijutsu vor allen Dingen ein System zu sein, das versucht, durch das Studium von Angriff und Verteidigung, das Wesen der menschlichen Existenz zu erkennen. In diesem Aspekt unterscheidet es sich in keiner Weise vom Judo Meister Kanos. Das Training im Budō Taijutsu hat nur ein Ziel: Rückkehr zu natürlichen Bewegungsmustern. Das ist etwas das sich nicht materiell definieren läßt. Die natürliche Bewegung befindet sich fern von jeglichem Formalismus. Es ist eine Fähigkeit des Selbstschutzes, die der Schüler völlig natürlich durch die Vertiefung seines technischen Wissens mit und durch seinen Körper erwirbt; das beschränkt sich selbstverständlich nicht nur auf die physische Ebene, sondern erfordert auch eine geistige Weiterentwicklung des Schülers.

Dazu stehen dem Schüler verschiedene „Werkzeuge“ zur Verfügung. Der erste Schritt wird mit dem erlernen der Basisbewegungen gemacht, die unter dem Begriff Ten Chi Jin Ryaku no Maki zusammengefaßt werden (Entwicklung (Maki) von Prinzipien (Ryaku) des Himmels (Ten), der Erde (Chi) und des Menschen (Jin)). Diese technische Basis ist eine Synthese aus allen Grundtechniken der neun Schulen des Bujinkan Budo Taijutsu, dies sind im folgenden:

  • Togakure Ryū Ninjutsu,
  • Koto Ryū Kopojutsu,
  • Gyokko Ryū Koshijutsu,
  • Takagi Joshin Ryū Jutaijutsu,
  • Kumogakure Ryū Ninpō,
  • Gyokushin Ryū Ninpō Taijutsu,
  • Gikan Ryū Koppojutsu,
  • Shinden Fudo Ryū Dakentaijutsu,
  • Kukishinden Ryū Happō Biken Jutsu

Die drei Aspekte des Ten Chi Jin beinhalten Bewegungen bzw. Prinzipien, die den Schüler durch das tägliche Training formen. Im Ten erlernt der Schüler Techniken, die es ihm erlauben sich in jede beliebige Richtung zu bewegen. Im Chi erlernt man Nahkampftechniken, d. h. verschiedene Wurf-, Kontroll-, Hebel- und Würgetechniken.

Im Jin werden die beiden vorherigen Prinzipien vereint (Ten+Chi) um den Schüler von allzu einengenden Formen zu befreien. Diese Philosophie gibt dem Schüler die Notwendige Freiheit um nicht in einen rigiden Formalismus zu verfallen (d. h. eingesperrt in einer Kata). Im Budo Taijutsu existieren keine Kata.

Man hört oft das es im Budō Taijutsu keine Kata gibt und daher sei alles erlaubt – das ist ein Trugschluß! Bevor man zur „Formlosigkeit“ kommt, muß man erst die Basisform erlernt haben. Dieses Unverständnisses wegen, wurde das Ninjutsu oft, und das auch in beleidigender Weise, kritisiert. Um ein guter Kampfkünstler zu sein reicht es nicht nur aus hart zu trainieren!

Mit der Beherrschung des Ten Chi Jin erhält man den 1. Dan (Shodan). Ab diesem Niveau beginnt der Schüler erst richtig zu lernen! Man kann das mit dem Erlernen eines Musikinstrumentes vergleichen: Bis zum 1. Dan übt man nur Tonleitern und macht sich mit dem Instrument vertraut ohne tiefer in die Materie einzudringen.

In der zweiten Phase beginnt das Arbeiten mit den verschiedenen Schulen. Jede Schule des Bujinkan besitzt ihre eigenen Techniken und demnach auch ihre eigene Philosophie. Der Analogie mit dem Erlernen eines Musikinstrumentes folgend, lernt der Schüler nun die Werke der großen Komponisten kennen. Er interpretiert jeden Komponisten auf seine Weise und entwickelt dabei Gefühl und Technik. Jedes einzelne der neun Systeme des Bujinkan fordert vom Schüler, daß er sich immer wieder mit einem neuen Ansatz auseinandersetzen muß. Mit dem ständigen erlernen neuer Aspekte verbessert der Schüler Schritt für Schritt sein Können. Hat man diese Phase erfolgreich abgeschlossen erhält man den 5. Dan (Godan).

Die dritte Phase kann man als den „Beginn eines erneuten Anfangs“ bezeichnen. Die Graduierungen im Bujinkan sind in der Tat mit den fünf japanischen Elementen verbunden:

  • Chi – Erde,
  • Sui – Wasser,
  • Ka – Feuer,
  • Fu – Wind,
  • Ku – Leere

Der Schüler, der die Fünf Elemente durchschritten hat, beginnt nun sich vom „Formalismus“ zu befreien. Er beginnt nun selber seine eigene Musik zu komponieren. Diese Kreativität läßt sich

allerdings nicht ohne ständige Rückkehr zu den Grundtechniken Ten Chi Jin aufrecht erhalten. Auch der virtuoseste Pianist kann nicht auf Tonleitern verzichten.

Die letzte Phase beginnt mit dem Erhalt des 10. Dan (Judan). Es ist die Stufe, die Takamatsu Sensei – Lehrer von Hatsumi Sensei – Jihi No Kokoro oder „großzügiges Herz“ nennt. Die Kreativität wird auf diesem Niveau grenzenlos und geht weit über die Grenzen des Dōjō hinaus, Man erkennt, daß es keine guten oder schlechten Bewegungen gibt – es existiert nur die eine; eine einzige Realität:

Das Shizen Gyo Un Ryu Sui, die harmonisch, natürliche Bewegung, die immer der Situation

angepaßt ist. Wie im Leben, sind die Dinge ohne Unterlaß in Bewegung. Eine Kampftechnik wird in einer Auseinandersetzung nur für einen Augenblick Realität. Das Wiederholen von leblosen Formen sperrt den Menschen nur in ein mechanisches Korsett ein, das mit der Realität außerhalb des Dojos wenig bis nichts zu tun hat. Viele hochgraduierte Kampfkunst-Meister mußten dies am eigenen Körper schmerzhaft feststellen. Die gewaltsame Auseinandersetzung     ist immer die schlechteste und am wenigsten intelligente Losung. Wenn der Kampfkünstler in Einklang mit der reinen Bewegung der Natur steht, (er)fühlt er die Dinge und weiß daher jede Auseinandersetzung zu vermeiden. Die Kampfkunst verwandelt sich daher in ihrer höchsten

Form in eine Lebenskunst. Das ist auch das Endziel des Budō Taijutsu, obwohl dies von

einigen Meistern aus Egozentrik und Machtwillen nur zu oft vergessen wird. Aus dieser Perspektive ist das Erlernen des Budō Taijutsu, wie das Erlernen jeder anderen Kampfkunst auch, eine Lebensaufgabe. Eine Graduierung, ein schwarzer Gürtel ist nichts weiter als eine Falle für das Ego. Egal welche Graduierung Sie gerade besitzen, vergegenwärtigen Sie sich, daß Sie immer ein  Anfänger bleiben werden. Die einzigen Grenzen, die bestehen, sind die, die Sie sich selbst setzen. Budō Taijutsu läßt sich als Fusion von Körper uns Geist definieren.

Diese Definition ist universell für alle Kampfkünste gültig. Bedenken Sie, daß wenn es wirklich eine Kampfkunst gäbe, die allen anderen in allen Bereichen überlegen wäre, sie von allen Kampfkunstbegeisterten ausgeübt würde. Wenn Sie also mit „Ihrer“ Kampfkunst zufrieden sind, und Sie in ihr finden, was Sie gesucht haben, dann bleiben Sie dabei!

In Frankreich hat sich das Bujinkan Budō Taijutsu weit verbreitet und nun beginnt eine neue Etappe. Zahlreiche Schulen bieten qualitativ hoochwertigen Unterricht an, der durch kompetente Ausbilder vermittelt wird. Wenn Sie Interesse haben, besuchen Sie einfach eine Trainingsstunde und sprechen Sie mit dem örtlichen Ausbilder. Zum Abschluß möchte ich nochmal zum

Anfangsthema dieses Artkiels zurückkehren und nochmal jene Sache mit der lnexistenz von Formen im Taijutsu aufgreifen. Das unterdurchschnittliche Niveau einiger Schüler und einschließlich einiger Meister, resultiert aus der schlechten Interpretation dieser zu oft angewandten und nur selten verstandenen Phase. Meister Hatsumi wiederholt es immer wieder. „Man muß die Form vergessen!“ Vergessen impliziert aber, daß man zuerst etwas erlernt oder wissen muß, das man dann später vergessen kann. Der menschliche Geist weiß sehr gut Hindernisse zu umgehen. Sehr oft verdankt ein erfolgreicher Komponist seinen Erfolg, dem eingängigen und langwierigen Studium der musikalischen Grundformen. Konzertpianisten verbringen Stunden mit dem Exerzieren von Tonleitern und anderen Grundübungen und bevor ein  wahrer Künstler ein  Bild malt, bereitet er sich unter Umständen monatelang mit Skizzen und Farbkompositionen darauf vor. Warum sollte es also in den Kampfkünsten anders sein?

Das Erlernen einer Kampfkunst durchläuft drei Phasen: Die Aufnahme der Form durch den Körper (Taihen), Vertiefung der Technik durch Erfahrung und dem Ratschlag des Lehrers (Kuden), und drittens die Überwindung der Form und die Anwendung der „natürlichen“ Bewegung (Shinden).

Zwischen den internationalen Seminaren (TaiKai), die von Meister Hatsumi abgehalten werden, und meinen jährlichen Aufenthalten in Japan, verbringe ich mehr als einen Monat als einer von vielen Schülern bei meinem Meister, um mein Wissen aufzufrischen und Neues zu erlernen. Der Weg ist grenzenlos.

Ich sehe keine andere Möglichkeit es anders tun zu können. Mein Ratschlag an alle, die sich mit Budō Taijutsu beschäftigen, ist, daß sie ohne Unterbrechung ihr technisches Studium fortfahren, daß sie ständig zur Basis zurückkehren und sich nicht mit ihrem Erlerntem zufrieden geben. Der Gürtel, den man um die Hüfte gewickelt trägt dient nur dazu die Kimono-Jacke in Ordnung zu halten und um unser Ego zu befriedigen. Verlangen Sie von sich selbst alles ab! Das technische Niveau wird nur durch Ihren Willen oder Nicht-Willen sich weiter zu verbessern eingeschränkt. Wie sagt Hatsumi Sensei? „Schreite voran! Bleib nicht stehen!“

Das Studium der Kampfkünste ist eine Lebensaufgabe. Versteht man dies, versteht man das Leben. Sind Sie nicht in der Lage sich genügend zu motivieren? Geben sie die Kampfkunst auf und treiben Sie Sport!